Prager Hinterhöfe im Frühling
Feuilletons und Reportagen 1919-1939
Herausgegeben von Alena Wagnerová
Aus dem Tschechischen von Kristina Kallert
Wie kann man als Journalistin Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt werden, wenn man vieles nur unter männlichem Pseudonym veröffentlichen darf? Milena Jesenská, eines der größten Talente unter den jungen tschechischen Journalist*innen der 1920er-Jahre, ist auch heute noch vorwiegend als Freundin Franz Kafkas bekannt. Aus ihren Veröffentlichungen der Wiener Zeit (1919-1924) und den Reportagen nach ihrer Rückkehr in die Tschechoslowakei (1925-1939) hat Alena Wagnerová mehr als 70 Zeitporträts und politische Beiträge ausgewählt – jeder Text engagiert, unmittelbar: eindrucksvolle Momentaufnahmen aus der Lebenswelt der Menschen.
In Wien widmet sich Jesenská Themen wie dem neuen Großstadttyp, dem Kriegsgewinnler und Neureichen, dessen Spielplätze die Wiener Schwarzmärkte, Bars und Kaffeehäuser sind. Sie zeigt Bilder der Nachkriegszeit: von Kindern, die mit dem Krieg ihre Kindheit verloren haben, bevor sie überhaupt beginnen konnte, von Bettlern, die aus der Not Reklame machen.
Zurück in der Tschechei wird Jesenská mehr und mehr mit präzisen Analysen der politischen Situation auf die kollektive Manipulation der Menschen eingehen und dabei auf Gefahren aufmerksam machen wie auf das Erstarken der Gruppe um den Nationalsozialisten und Sudetendeutschen Konrad Henlein und auf die zunehmende Armut in den Prager Hinterhöfen. Findet sie zunächst mit ihren Themen Aufnahme in der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei und schreibt für die Partei-Illustrierte, gilt sie schon bald ihrer linken Haltung wegen als Trotzkistin und muss andere Möglichkeiten der Veröffentlichung suchen.
Mit dem Beitritt zur Widerstandsbewegung im Jahr 1939 zieht Milena Jesenská die letzte Konsequenz aus ihren punktgenauen Recherchen des politischen wie gesellschaftlichen Lebens. Sie stirbt 1944 im KZ Ravensbrück. Erst 1963 fällt ihr Name auf einer Kafka-Konferenz in Liblice in Verbindung mit einer Würdigung ihrer Tätigkeit als Übersetzerin. Dann wieder Schweigen bis zum Jahr 1989.
Wer Jesenskás Texte liest, sitzt neben ihr, sitzt mitten im Krautgeruch von Wien, neben dem fiktiven liberalen Kapitalisten, dem sie all die egozentrierten Ungeheuerlichkeiten in den Mund legt, die heute noch wie 1933 gelten. Ihre Texte strotzen vor Lebendigkeit, auch nach fast hundert Jahren noch, denn niemals, wirklich kein einziges Mal verbirgt sich die Autorin hinter einem Allgemeinplatz. Was für eine kluge, mutige Frau!
Wallstein
Hardcover: 416 S., € 32,-
DAS IST DRIN
Journalistin des frühen
20. Jahrhunderts
empathische Reportagen,
präzise politische Analysen