Die Versuchung, zu verzweifeln
Geschichten aus den 1940er-Jahren
Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Bayerl
Nach Kriegsende bestimmte der Wunsch nach Vergeltung auf der einen und Verdrängung auf der anderen Seite den Umgang mit den Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs und der Diktatur Hitlers. In den Jahrzehnten danach etablierte sich der Erfolgsmythos der Besatzung Westdeutschlands durch die Alliierten. Die von Leid, Hunger und Verzweiflung geprägte Zeit geriet in Vergessenheit. Werner Sollors, Professor der Harvard University, 1943 in Schlesien geboren, hat Dokumente – Tagebücher, Prosa, Filme, Fotografien – der 1940er-Jahre zusammengetragen. Der differenzierte Blick auf die kulturellen Dokumente und ihre Rezeption macht deutlich, dass nicht Schuldzuweisung, sondern das Bemühen um wirkliches Verstehen die einzige Chance ist, einer Wiederholung der Schreckenszeit entgegenzuwirken.
1945 wurde Deutschland von einer Welle von Selbstmorden überzogen. Diese Zeit der Bewusstwerdung der eigenen Schuld, die für den einzelnen kaum zu ertragen war, hatte ihre eigene Sprache. Oft war es die Sprache der Verzweiflung. In Hungersnot, in Ruinen lebend wurde die deutsche Bevölkerung mit Schuldplakaten, auf denen die Toten der Konzentrationslager zu sehen waren, angeklagt, und dies geschah mit deutlichen Worten »Diese Schandtaten: Eure Schuld!« Ein Kapitel ist der Reaktion von Alliierten und Deutschen auf diese Bilder gewidmet, aber auch den Zuständen, die wenig später in den Lagern für Displaced Persons herrschen sollten.
In einem anderen zeigt Sollors anhand eines bekannten Fotos von George Roger, wie festgelegt Menschen in ihren Denkmustern von Gut und Böse waren und möglicherweise heute noch sind. Das Foto zeigt einen Jungen, der im Sonnenschein eine Straße in Belsen hinab läuft. Sein Blick ist auf den Fotografen gerichtet, abgewandt von den am Straßenrand liegenden Toten. Was für einen Unterschied in der Interpretation des Bildes hat es ausgemacht, ob das Kind – wie fälscherlicherweise zu Beginn – als Deutscher oder als niederländischer jüdischer Junge bezeichnet worden ist.
In allen Kapiteln, in denen Zeitzeugen wie Robert Capa, Martha Gellhorn, Gertrude Stein, Erich Kästner, Wolfgang Koeppen und viele mehr zu Wort kommen, hat Sollors durch kriminalistische Recherche Erstaunliches zutage gefördert. Damit stellt der Autor – selbst ein Betroffener – dem Wunsch zu vergessen das Streben nach Erkenntnis entgegen. Und das erweist sich bei der Verwirklichung einer anderen, besseren Welt in diesem spannenden, facettenreichen Buch als existentiell.
Universitätsverlag Winter
Hardcover: 398 S., 35 Abbildungen, ca. € 24,-
DAS IST DRIN
kultureller Dokumente:
erhellend
AUTOR/IN
Biographie